Peter Sloterdijk über Feinde, Verantwortung und das Ende der politischen Selbstberuhigung
Während meines Studiums war er der heimliche Star der kulturkritischen Philosophie mit Bezügen zu Nietzsche, Heidegger und der Frankfurter Schule. Er gilt als Provokateur und Intellektueller, der mit seinen Thesen immer wieder zur Diskussion anregt.
Was bedeutet es, wenn ein Kontinent, der sich Jahrzehnte lang als Hort der Nachkriegsharmonie verstand, sich plötzlich mit der Rückkehr des Feindes konfrontiert sieht? Im ausführlichen Interview mit der F.A.Z. spricht Sloterdijk über einen fundamentalen Bewusstseinswandel in Europa und deutet diesen als politischen wie zivilisatorischen Einschnitt.
Sloterdijk diagnostiziert eine tiefe Verunsicherung: Die europäische Öffentlichkeit, lange eingelullt in die Illusion eines posthistorischen Zeitalters, wird durch die kriegerische Realität – insbesondere durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine – in die politische Gegenwart zurückgeholt. Die Formel „Wir haben wieder Feinde“ ist dabei keine Alarmglocke, sondern Ausdruck einer nüchternen Diagnose: Europa wird nicht geliebt, sondern beobachtet, instrumentalisiert, gehasst und im Zweifel angegriffen. Es muss (wieder) lernen, sich zu behaupten.
Gerade in Frankreich, wo Sloterdijk lebt, verdichten sich für ihn die Symptome: politische Fragmentierung, soziale Spannungen, ein gestörtes Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung. Dennoch sieht er auch Potenzial: Wenn es gelingt, aus der Krise eine strategische Selbstbesinnung zu machen. Für Deutschland wiederum konstatiert er eine fortdauernde Unschlüssigkeit, was Macht eigentlich bedeuten darf und mahnt eine konstruktive Rolle in einem politisch souveräneren Europa an.
Der Philosoph spricht in diesem Zusammenhang von „Glück“, allerdings nicht im subjektiven, sondern im historischen Sinn: Europa hat die Chance, unter Druck zu sich selbst zu finden. Der Verlust der alten Selbstgewissheiten eröffnet die Möglichkeit, neue politische Reife zu entwickeln – jenseits von moralischem Rigorismus und sicherheitsstrategischer Naivität.
Sloterdijks Analyse ist nicht defätistisch, sondern fordernd. Sie plädiert für einen Kontinent, der sich weder abschottet noch in Weltferne verliert, sondern Verantwortung als politische Tugend neu entdeckt. Die Rückkehr des Feindes könnte – paradox formuliert – der Moment sein, in dem Europa erwachsen wird.
Leseempfehlung: Sloterdijk hält ein geistreiches Plädoyer gegen die politische Infantilisierung Europas und für eine neue, realitätstüchtige Selbstachtung.
Zum Interview der F.A.Z. (hinter der Paywall)